Dienstag, 29. April 2025
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Ostdeutsche Ministerpräsidenten für gleichwertige Lebensverhältnisse

Aufbau Ost und Aufbau West

Beim Treffen der Regierungschefin und Regierungschefs der ostdeutschen Länder unter Vorsitz von Sachsen-Anhalt im Bundesrat in Berlin stand das Thema Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West erneut auf der Tagesordnung. Anlaß sind die im dreißigsten Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung weiter bestehenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte, u.a. bei Löhnen und Wirtschaftsleitung.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, unterstrich die Wichtigkeit weiterer Hilfen beim Zusammenwachsen Deutschlands:
„Gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West bleiben unser Ziel. Daher müssen in der gleichnamigen Kommission vor allem Lösungen zur Überwindung der flächendeckenden Strukturschwäche in den ostdeutschen Ländern entwickelt und weitere Impulse für den wirtschaftlichen Aufschwung gesetzt werden. Neben den Herausforderungen ländlicher Räume gilt es auch den spezifischen Problemlagen wachsender Großstädte in den Bereichen Wohnen und Infrastruktur sowie bei den Bildungs- und Sozialangeboten Rechnung zu tragen.“

Müller bezog sich damit auf die von der Bundesregierung eingerichtete „Kommission zur Angleichung der Lebensverhältnisse“ bezogen, die von der Bundesregierung eingesetzt wurde. Der Vorsitz liegt bim Bundesministers des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer. Den Co-Vorsitz hat die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner, und die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Franziska Giffey.

Die Kommission hat vor allem folgende Aufgaben in sechs Facharbeitsgruppen verteilt:

„Kommunale Altschulden“
„Wirtschaft und Innovation“
„Raumordnung und Statistik“
„Technische Infrastruktur“
„Soziale Daseinsvorsorge und Arbeit“
„Teilhabe und Zusammenhalt der Gesellschaft.“

Ressortübergreifendes Thema mit Verfassungsrang

Die Formel von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ geht auf den Artikel 72 Grundgesetz zurück, der heute die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ zu einem Politikziel erklärt, das einen Eingriff in Landesrecht durch die Bundesregierung begründen kann. Urprünglich war von 1949 bis 1994 von der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ die Rede. Ab 1994 wurde dann im gleichen Artikel von der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ gesprochen.

Die Bundesregierung hat das Thema Angleichung der Lebensverhältnisse ganz oben auf der Agenda des Koalitionsvertrages. Zuständig ist vor allem das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat unter Minister Horst Seehofer (CSU). Er hat in einer Rede am 7.11.2018 im Deutschen Bundestag einen Deutschlandatlas mit Karten zu „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht. Seehofer umriß die Aufgabe:

„Deutschland steht ohne jeden Zweifel insgesamt gut da. Aber wir müssen auch sehen, dass die Lebensverhältnisse in einzelnen Regionen höchst unterschiedlich sind: auf der einen Seite überhitzte Ballungsräume, auf der anderen Seite Regionen mit objektiv strukturellen Problemen, Regionen, in denen die Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Deshalb hat die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag entschieden, dass wir das Thema „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, also Fragen nach persönlicher Lebensqualität, nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in den Problemregionen und nach dem Zusammenleben vor Ort, zu einem zentralen Punkt für diese Legislatur machen.“

In dem Deutschland-Atlas kann man auch genau sehen: es gibt auch in den westlichen und nördlichen Bundesländern erhebliche Strukturschwächen. Deshalb arbeitet die Bundesregierung auch am Aufbau Ost und West.

Ministerpräsidenten der Bundesländer formulieren Ansprüche an die Bundesregierung

Die Ministerpräsidentenkonferenz-Ost forderte die Bundesregierung nun erneut auf, sich stärker für Standortentscheidungen von Bundesbehörden und EU-Institutionen in den ostdeutschen Bundesländern einzusetzen. Ein „Ansiedlungscheck Ost“ in der jeweiligen Entscheidungsvorlage für das Bundeskabinett könnte das Bewusstsein für eine gleichmäßige Verteilung im Bundesgebiet schärfen. Im Vergleich zu den westdeutschen Ländern besteht hier Nachholbedarf.

Dazu Michael Müller: „Vor allem auch bei Ansiedlungsprojekten im Bereich Digitalisierung, künstliche Intelligenz und Cybersicherheit sollten die ostdeutschen Länder berücksichtigt werden, da diese Zukunftstechnologien für die wirtschaftliche Entwicklung und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von besonderer Bedeutung sind.“

Innovationen und Forschungseinrichtungen als Standortfaktor

Neben Bundesbehörden stellen auch große Unternehmen und Forschungseinrichtungen einen wichtigen Standortfaktor dar. Michael Müller: „Die Entscheidung von Siemens für einen Innovationscampus in Berlin ist für den ostdeutschen Raum ein herausragender Erfolg. Wir müssen auch weiterhin die Rolle von großen Unternehmen für unseren Wohlstand deutlich machen und die Innovationskraft von kleinen und mittleren Unternehmen fördern. Die räumliche Nähe zu wichtigen Institutionen und Forschungseinrichtungen kann wegen kurzer Wege und leichterer Kooperationsmöglichkeiten vor Ort dazu beitragen, den Industriestandort Ostdeutschland zu sichern und seine Attraktivität weiter zu stärken.“

Was allerdingt noch nicht von Müller angesprochen wurde: die ausstehende Inbetriebnahme des Großflughafens BER und die Krise der Deutschen Bundesbahn mit immer mehr verspäten Zügen und der verschleppte Breitbandausbau stellen sich heute als erstrangige Standort-Risiken im Aufbau-Ost dar, der bei geringerer Siedlungsdichte über die Fläche erschlossen werden muss.

Erwartungn an den Ostbeauftragten der Bundesregierung

Im Gespräch mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Christian Hirte, bekräftigten die ostdeutschen Länderministerpräsidenten ihre Erwartung, dass der Bund spätestens zum Jahr 2020 die Finanzierung der Sonder- und Zusatzversorgungssysteme der ehemaligen DDR (AAÜG) vollständig übernimmt. Trotz der Zusage aus dem Koalitionsvertrag, die Bundeserstattungen an die Deutsche Rentenversicherung schrittweise zu erhöhen, gibt es bislang noch keine Signale von der Bundesregierung, was die konkrete Umsetzung betrifft.

Ziel bleibt insgesamt eine gleichmäßigere Verteilung des Wohlstandes in Deutschland und eine Angleichung von Löhnen, Gehältern und Renten zwischen Ost und West.

Müller sagte dazu: „Eine weitere Stärkung des sozialen Arbeitsmarktes durch Maßnahmen wie das solidarische Grundeinkommen, für das ich mich einsetze, kann ebenfalls einen wichtigen Beitrag dazu leisten, sozialen Benachteiligungen entgegenzuwirken und eine schleichende Spaltung der Gesellschaft zu verhindern.“

Die Regierungschefin und Regierungschefs der ostdeutschen Länder betonten schließlich die Notwendigkeit des Erhalts der EU-Kohäsionspolitik über 2020 hinaus. Berlin erhält in der laufenden EU-Förderperiode 2014-2020 852 Mio. Euro, davon 635 Mio. Euro aus EFRE und 215 Mio. Euro aus dem ESF. Michael Müller plädierte dafür, in der kommenden Förderperiode der besonderen Rolle der ostdeutschen Metropolen und Ballungsräume für die Überwindung der Entwicklungshemmnisse in den übrigen ostdeutschen Regionen noch stärker Rechnung zu tragen.

Kommentar: Politiklücken bei der Angleichung der Lebensverhältnisse

Die regionalen Unterschiede aller Bundesländer sind groß. Vor allem im Bereich der Finanzierung von Projekten, Neugründungen und Risikokapital-Finanzierungen gibt es erhebliche Ungleichgewichte. Generell sorgen in Ostdeutschland die geringere Siedlungsdichte und das Fehlen eines tief strukturierten Mittelstandes für geringere Skalierungsfähigkeit vor Geschäftsmodellen und in der Regel oft eine Unterkapitalisierung der Gründer, und fehlendes Risiko-Kapital.

In Bayern ist dagegen im Raum München derart viel privates Eigenkapital vorhanden, das Fördermodelle umstrukturiert werden müssen, um Mitnahme-Effekt zu verhindern. Zuschußförderungen werden deshalb nur noch in Technologie-Zentren und definierten Innovationsclustern in 80-100 Km Entfernung gewährt.

Mit der Neuregulierung des Bankenbereichs (Basel III) im Gefolge der Finanzkrise 2008/2009 wurde auch die Kreditvergabe von Groß- und Millionenkrediten in Ostdeutschland erheblich erschwert. Der Blick dafür fehlt heute der Politik, weil Großkredite inzwischen in Ostdeutschland selten geworden sind, und Investoren mit Eigenkapitaldeckung, bzw. EZB-Mitteln vor allem die Immobilienmärkte antreiben. Die Großkredit- und Millionenkreditverordnung (GroMiKV) ist eine verbindliche Vorgabe des Bundesministeriums der Finanzen sowohl für Kreditinstitute als auch für Finanzdienstleistungsinstitute. Die müssen die Verordnung (EU) Nr. 575/2013 beachten, die sogenannte Kapitaladäquanzverordnung, die im Rahmen von Basel III Vorgaben zur angemessenen Eigenmittelausstattung von Bank- und Finanzierungs-Instituten macht. Das kritische Standort-Problem in Deutschland Ost und auf dem Lande West: die Kreditvergabe über regionale und kommunale Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken kommt zum Erliegen, wenn die Institute selbst zu klein sind.

So gibt es ein schwer lösbares Triple-Strukturproblem:
– niedrige Siedlungsdichte = niedrige regionale Marktskalierung
– geringe Eigenkapitalausstattung verhindert ausgreifende Startup-Gründungen
– die Kreditvergabe ist mehrdimensional erschwert.

Die Politik sollte daher die unterschiedlichen Zugänge zu Finanzierungen und Krediten zum Thema machen. Tatsächlich sind heute auch innovative Cluster- und Plattform-Modelle bei Innovationsparks möglich, bei denen Kommunen Grundstücke zur Verfügung stellen, auf denen eigenwirtschaftliche Startups- und „Plattform-Genossenschaften“ nach und nach selbst Eigenkapital erwirtschaften dürfen. Das erinnert dann an das Modell, „sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf“ ziehen.

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Wie strukturschwache Regionen und Städte mit eigenwirtschaftliche Startups- und „Plattform-Genossenschaften“
lokale Krisen überwinden können.